Ist der erste Eindruck so entscheidend?

Nichts scheint für uns so individuell zu sein wie unsere Gefühle, unser Geschmack, unsere
Lebensgewohnheiten – wie wir uns fühlen, wie wir uns bewegen und was uns persönlich fasziniert.

Was wir fühlen, was wir mögen, fühlt sich privat, individuell und intim an. Unsere Verhaltensweise,
unser Erscheinungsbild, unser Stil erscheint uns als einzigartiger Ausdruck unserer Persönlichkeit.

Über Kleidung, Stil und Benehmen versuchen wir, unsere Individualität in der Gesellschaft zu
konstruieren und uns von anderen zu unterscheiden. Aber was sagt diese etwaige Individualität
wirklich aus? Welche Funktion erfüllt sie?

All das wird nach dem französischen Soziologen, Pierre Bourdieu, in seinem Werk „Die feinen Unterschiede“ als Habitus bezeichnet. Habitus ist der zu eigen gewordene Geschmack, das Verhalten, die Art zu sprechen,
Gestik, Mimik, Vorlieben jedes Menschen. Dieser wird aber nicht individuell, sondern
milieuspezifisch und systemisch, also im sozialen Zusammenhang, dem Lebenskontext, erlernt.
Der Habitus, der als individueller Ausdruck erlebt wird, ist also in Wirklichkeit die verinnerlichte
Milieuzugehörigkeit. Deutlich wird, dass die Ausdrucksweise und der Geschmack ironischerweise
eben nicht Individualität abbilden, sondern soziale (Milieu-)Zugehörigkeit.

Die Wirkkraft des Habitus kann an folgender Szene, die jeder kennt, verdeutlicht werden:

Auf einer Veranstaltung wie einer Vernissage: Die Eingangstür öffnet sich, eine fremde Person tritt in
Erscheinung. Sie bewegt sich durch den Raum, spricht mit dem Personal, nimmt ein Glas Champagner, nimmt Kontakt zu etwaigen Bekannten auf, smalltalked, lacht. Ohne ein Wort mit ihr
gewechselt zu haben oder sie zu kennen, können wir die Person einem Milieu zuordnen. Passt sie
in die Welt der Kunst? Ist sie im Smalltalk gewandt? Strahlt sie Autorität aus? Bewegt sie sich dem
Rahmen angemessen?

Das Auftreten, die Art der Bewegung, die Kleidung, der Stil – kurz der Habitus – gibt uns tiefe Einblicke in Herkunft und Milieuzugehörigkeit.
Nicht fokussiert wird dabei die Individualität, stattdessen stereotypisieren wir im Sinne der vereinfachten Zuordnung in bekannte Kategorien, in diesem Fall Milieus – eine unbewusste, aber alltäglich genutzte, Strategie unseres Gehirns, um kognitive Rechenleistung zu sparen und die endlos komplexen Eindrücke der Umwelt verarbeiten zu können.

Die Milieuzugehörigkeit beinhaltet aber eine weitere Dimension, denn es geht nicht lediglich um die Einordnung von Individuen. Milieus strukturieren die Gesellschaft hierarchisch und damit die Verteilung von Kapital, Positionen, Chancen, Herrschaft und Zugehörigkeit.
Die Milieuzugehörigkeit beeinflusst also faktisch unsere Karrierechancen.
Der Primacyeffect und der HALO Effekt sind beispielhaft zwei von zahlreichen systematischen kognitiven Verzerrungen, die den Effekt beschreiben, dass der erste Eindruck oder auch eines oder wenige augenscheinliche Merkmale die Merkmalsvielfalt überlagern und verzerren, positiv oder negativ. Der Habitus, der von Außen leicht ablesbar ist, verortet das Individum innerhalb von Sekunden in ein Milieu
mit weitreichenden Konsequenzen z.B. Chancen auf Positionen. Es ist also im privaten wie beruflichen
Kontext von entscheidender Wichtigkeit, wie unser äußerer Eindruck ist.

Dabei ist es kausal logisch, dass sich die hierarchisch unteren und mittleren Milieus an den oberen
Milieus orientieren und einen Aufstieg anstreben.
Erst das Reflektieren, dass alles, was wir mögen, wie wir uns kleiden, wie wir sprechen und wie wir
uns geben unsere Verortung im sozialen Raum festlegt und dies wiederum maßgeblich die
Chancen auf Positionen beeinflusst, ermöglicht uns, bewusst Einfluss auf unsere eigene Positionierung zu nehmen.

Johanna Degen 

Psychologin am Institut für Umwelt-, sozial- und humanwissenschaften Abteilung Psychologie
Europa-Universität Flensburg